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Das neue Werbeplakat von Wien Energie zeigt eine Radfahrerin (Martina, 16) auf einem Elektro-Rad mit dem Slogan: „Benzinbrüder brems ich mit Strom aus“ – ein Paradebeispiel für die Verwendung von Stereotypen: emotional besetzt, „ganz oder teilweise tatsachenwidrig und Veränderungen gegenüber weitgehend resistent“, wird hier der schwelende Unfriede zwischen VerkehrsteilnehmerInnen angeheizt und gleich noch weiter verfestigt. Solche eingefahrenen Klischees werden jedoch nicht nur in der Werbung oder zur Aufrechterhaltung verschiedener –Ismen gezielt eingesetzt, sondern schränken auch im zwischenmenschlichen Bereich unsere Wahrnehmung und unser Verhalten ein.
Unser Gehirn braucht nur eine Zehntelsekunde, um bei einer ersten Begegnung ein Urteil über andere zu fällen. Aber auch Menschen, die uns nahe stehen, drücken wir nur allzu gerne einen Stempel auf, der „Veränderungen gegenüber weitgehend resistent“ ist. So erwarten wir vielleicht von einem Freund, der bei den letzten paar Treffen schlagfertig und spritzig die ganze Runde unterhalten hat, auch bei folgenden Zusammenkünften für das Entertainment zu sorgen und reagieren irritiert wenn er mal nicht so gut drauf ist. Äußert eine Kollegin, die einmal vor Jahren ihrem Ärger lautstark Luft gemacht hat, leise berechtigte Kritik, wird sie umgehend zurechtgewiesen mit der Bitte, „doch nicht schon wieder auszuflippen.“ Und oft sind wir so überzeugt, dass jemand „das Übliche“ machen wird („er/sie kommt sicher wieder zu spät“), dass wir gar nicht richtig wahrnehmen, was in der Realität wirklich passiert (die Person kommt vor uns an).
Untersuchungen über Stereotypen haben gezeigt, dass wir dem, was unserer Erwartung, unserem (Vor)Urteil entspricht, automatisch mehr Aufmerksamkeit schenken, es leichter abspeichern und uns langfristig besser daran erinnern – d.h. unsere Wahrnehmung ist eingeschränkt und fokussiert automatisch immer wieder auf den gleichen Teilaspekt des Geschehens. Ein bisschen wohl wie beim „Gorilla-Experiment“, bei dem mehr als die Hälfte der Testpersonen nicht bemerkte, dass ein „Gorilla“ durch das zu beobachtende Spielfeld lief, weil ihre Aufmerksamkeit einzig und allein darauf fokussiert war, die Pässe zwischen den SpielerInnen zu zählen.
Die Abgestempelten fokussieren im Gegenzug ihre Wahrnehmungsantennen oft auf die Erwartungshaltung oder die Missbilligung der anderen und reagieren dann automatisch genau so, wie man es von ihnen erwartet; oder sie vermeiden unter Extra-Anstrengung der Erwartung zu entsprechen; sie sind dann vielleicht automatisch zuvorkommend und verständnisvoll, obwohl es jeden Anlass dafür gäbe, auf den Tisch zu hauen. So oder so sind alle Beteiligten eingeschränkt durch selektive Wahrnehmung, reduziertem Bewegungs- und Handlungsspielraum und endlose Wiederholungen des immer Gleichen. Die gefällten Urteile bleiben auch oft wie Kletten an Menschen kleben – egal, was man tut und wie lange man eigentlich dem Stempel nicht (mehr) entspricht, man wird immer noch mit dem selben Etikett versehen: und als die Aufmüpfige, die Schlampige, der Ehrgeizling, der Hallodri wahrgenommen.
Erscheint ungerecht? Unvermeidlich? Unausweichlich?
Wie du aus diesem Netz aussteigen kannst?
Ich denke, es gibt Möglichkeiten, aus diesem Netz von Erwartungen und Einschränkungen auszusteigen. Eine davon ist, unsere „Erwartungs-Wahrnehmung“ und Aufmerksamkeit wieder auszuweiten. Eine Anleitung zum ersten Schritt aus dem starren Netz, das dich auf immer wieder gleiche Wahrnehmungs- oder Handlungsweisen festzulegen drängt findest du weiter unten im Übungsteil! Am Schluss ist auch ein Link zum Video aus dem Gorilla-Experiment.
Siehst Du den Gorilla?
Was sind deine Erfahrungen zu Abstempeln und Abgestempeltwerden? Kennst du Situationen, in denen deine Wahrnehmung eingeschränkt ist? Und siehst du den Gorilla?
Die ersten 10 Personen, die in einem Kommentar hier kurz über eine Erfahrung oder Erkenntnis berichten erhalten eine Überraschung! 🙂
Bestandsaufnahme
Wähle eine Situation in der du dich durch Abstempeln oder Abgestempeltwerden automatisch einschränkst. Beginne, Daten und Fakten darüber zu sammeln, was in der Situation passiert und wie du währenddessen bist. Unter dem Motto: „Jugend forscht!“ sei neugierig und beschreibe im Detail: z.B. Wo passiert was wann, wie oft, mit wem? (Sei präzise, nicht nur – „im Büro“ – sondern – „im großen Sitzungszimmer im vierten Stock, rechts beim Fenster“). Wie ist deine Haltung, wie atmest du, wie schaust du, wo im Körper spürst du was (Anspannung, Enge, Druck, Leere?…), gibt es Bereiche, die du gar nicht wahrnehmen kannst? Wie sehr spürst du den Raum um dich? Worauf ist deine Aufmerksamkeit gerichtet? Hast Du bestimmte Sätze im Kopf, diskutierst du mit dir, was sagst du über dich, die anderen, kommentierst du das Geschehen? Wie ist dein Denken? Sind die Sätze vollständig oder nur Fetzen? Wie ist deine Stimmung? Nimm dir Zeit und schaffe eine detaillierte, wertungsfreie Bestandsaufnahme. Diese soll dich unterstützen, deine Aufmerksamkeit zu schärfen.
Atmen und Körper sein
Möglicherweise bist du nach dem Schreiben angespannt und fühlst dich ähnlich wie in der von dir gewählten Situation. Dann ist wieder einmal atmen angesagt! Atme tief und lass die Anstrengung so gut es geht wieder los. Die folgenden beiden Übungen können dich dabei unterstützen und sind auch gut für zwischendurch (z.B. im Büro). (Wenn du weißt, dass die betreffende Situation ansteht, kannst du auch gleich prophylaktisch (:-) ) oder mittendrin atmen und entspannen, schau mal, ob dann etwas anders ist!)
Gehen im Sitzen
Ausgangshaltung: Aufrecht Sitzen, Augen geschlossen, ein paar tiefe Atemzüge nehmen, Aufmerksamkeit auf den Körper bringen
Bewegungsablauf: Nimm sitzend die Bewegung auf, wie wenn du gehen würdest. Schwing den linken Arm locker neben dem Körper nach vorne, während du das rechte Bein hebst, dann schwing den linken Arm zurück, während du das rechte Bein kraftvoll auf den Boden zurück setzt. Gleichzeitig heb das linke Bein und schwing den rechten Arm nach vorne,….. Geh einige Zeit auf diese Weise im Sitzen. Danach spür nach, wie sich dein Körper nun anfühlt, wie deine Atmung ist. (Diese Übung stammt aus dem Buch „Atem und Bewegung“ von Norbert Faller).
Vasenatmung
Diese Übung kannst du im Sitzen, Stehen, oder Liegen machen.
Leg deine Hände zunächst auf den Bauch und atme ein paar Mal so, dass sich die Bauchdecke hebt und senkt. Dann leg die Hände seitlich auf die unteren Rippen und atme so, dass sich die Rippen seitlich ausdehnen. Dann leg die Hände auf die obere Brust, und bring die Atembewegung dorthin. Wenn Du die Übung so machen willst, dass es keiner merkt, lass einfach die Hände weg.
Jetzt kombiniere alle drei Atmungsarten: atme über den Bauch, in die Seiten, bis ganz hinauf in die Brust wie wenn dein Torso eine Vase wäre und du sie von langsam anfüllst – dann atme von oben über die Mitte nach unten wieder aus. Mach das für 4 – 10 mal. Spür nach, merke, wie deine Atmung jetzt ist, wie du deinen Körper nun spürst.